Liebe Zuhörer:innen und Leser:innen,

es ist das erste Mal, dass ich an der Schwelle zum neuen Jahr zögere: „Gute Wünsche erteilen? Ja, aber welche genau und wie?“ Dieses Jahr fordert die Situation, dass man sich die guten Wünsche genauer überlegt!

Kaum war die Weihnachtspause vorbei (wenn es eine gab), als die Covidzahlen wieder anstiegen und die Streitigkeiten zwischen den Menschen erneut aufflammten: In diesem Kontext einer gewissen Dringlichkeit, der für das Ausbrechen von wilden Emotionen günstig ist, erhoben sich von allen Seiten Stimmen, die warnten, prophezeiten, anklagten und nach Schuldigen riefen ... Die Realität ist aber sehr schwer zu erfassen … es gibt Ursachen und Auswirkungen: kurzfristige, mittelfristige, langfristige, auf so vielen unterschiedlichen Ebenen für diese global gewordene „Krankheit“.

Profitsucht und Gier sind ansteckend wie Viren und haben unseren Planeten in Arme und Reiche getrennt, unsere Gewässer, Luft, Wälder und Felder in Mitleidenschaft gezogen und die Lebensräume der Tiere drastisch reduziert. Wir brauchen keine Experten und Spezialisten zu sein, um zu wissen, dass die Pflanzen, die Tiere, die Menschen nicht mehr harmonisch nebeneinander leben und krank im Körper und in der Psyche werden können, wenn die Grundlagen des Lebens bedroht werden. Könnte es sein, dass dieser Virus ausgebrochen ist, weil wir schon zu sehr getrennt waren: von der Natur, von den anderen Menschen, von uns selbst und unseren wahren Bedürfnissen, von Gott?

Als Zuhörerin nehme ich die unterschiedlichen Stimmen wahr, als Erzählerin möchte ich die Fäden der fragmentarischen Wahrnehmung aufnehmen und miteinander verknüpfen: ich bin auf der Suche nach einer Geschichte, die die Türen zu einem Handlungsfeld öffnet, in dem Menschen in ihrer Vielfalt sich wieder als eine Menschheit erfahren können.
Genau das brauchen wir: Die Erfahrung, dass es noch möglich ist, gemeinsam etwas Positives zu erleben und damit Hoffnung zu schöpfen.

Miteinander aktiv werden, um die Biodiversität in der Natur und die Vielfalt in der Gesellschaft zu schützen, um unsere Erde zu reinigen, zu pflegen, zu heilen: das bringt viele und unterschiedliche, aber komplementäre Wege zusammen. Das gemeinsame Wirken einigt, lässt ein Gefühl der Freude entstehen und Freude ist und macht gesund. Freude und Nähe stärken die Immunsysteme - nehmen wir an, die Erde hat eins, sowie die Gesellschaft und das Individuum. Diese passen sich aneinander an und wirken auch zusammen.

Wir möchten Geschichten erzählen, die unsere vielfältige, wechselseitige Verbundenheit untereinander und mit der Natur darlegen, die von den wesentlichen Bedürfnissen sprechen, die alle Menschen überall gemeinsam haben: Gemeinschaft, Miteinander, Verbundenheit, Schönheit einer intakten Natur, Kraft des Lebens und des Lebendigen.*
Zum Thema Hoffnung und „nicht getrennt sein“, also zusammen handeln fällt mir immer wieder die Geschichte des kleinen Kolibris ein, die seit Jahrhunderten, nicht nur im Amazonasgebiet, sondern überall - einfach ein bisschen anders - erzählt wird.
Und es fällt mir auch diese schöne Aussage von einem Mädchen Namens Bella aus dem neuen Film „ANIMAL“ des französischen Cyril Dion (Les Colibris) ein:
„Wir alle wollen zu einer Geschichte gehören, Teil von etwas sein. Die Herausforderung für uns besteht darin, eine Geschichte zu erschaffen, zu der jeder Mensch gehören KANN."

Ja, eine uralte Sitte wird dringend wieder gebraucht:
Wir sitzen im Kreis … (ja, auch online, wenn es sein muss … hoffentlich bald wieder live!), wir sitzen im Kreis und wir nehmen uns Zeit, uns anzuschauen, uns wahrzunehmen, jeden einzelnen und die Gruppe zu spüren. Gemeinsam hören wir uns dann dieselbe Geschichte an, entwickeln daraus eine eigene Vision, lernen dabei uns selbst und die anderen tiefer kennen.

Wir sollten versuchen, es einfach zu tun … und damit das neue Jahr beginnen!

Ich wünsche Ihnen viele gute Geschichten – so wie die Geschichte weiter unten – Geschichten, die davon erzählen, dass wir eine Menschheit sind, auf einem gemeinsamen Planeten!

Warum sind Geschichten so wichtig?

Geschichten über die Nachhaltigkeit
In Südzeit – das Eine Welt-Journal für Baden-Württemberg Nr. 91 (DEAB)

Broschüre „Der Korb mit den vielen Früchten“ - Nachhaltige Geschichten zu den 17 SDGs der nachhaltigen Entwicklung.

Poesie im Ohr, Schönheit vor Augen

Mehrsprachiger Geschichtenspaziergang ab im Park Charlottenhof / Sanssouci in Potsdam ab 22.12.2021 (ich bin mit Französisch dabei!) Mehr Infos bekommt man hier: Die DigiWalk APP sollte vor dem Spaziergang. bereits kostenlos auf das Smartphone geladen werden.

Tapferes Schneiderlein reist nach Schwaben

„Odile Néri-Kaiser, die Grand Dame der Erzählkunst, erhält den diesjährigen Thüringer Märchen- und Sagenpreis der Stadt Meiningen, der Rhön-Rennsteig-Sparkasse und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. Der Preis ist eine Bronzefigur, die das Tapfere Schneiderlein zeigt. Er soll im Mai nächsten Jahres feierlich überreicht werden.

Zum Abschluss noch eine Geschichte:

Der Baum

In einer öden Landschaft stand einmal ein uralter, riesiger, prächtiger Baum, dessen Äste voll mit wunderschönen Früchten waren. Alle, die diese Früchte sahen, hatten den einen Wunsch, sie zu pflücken und zu essen! Das taten sie aber nicht, denn eine seltsame Warnung besagte: „Die Hälfte der Früchte ist gut und gibt das Leben, die andere Hälfte ist giftig und gibt den Tod!“. Die Menschen hatten aber vergessen, woran sie die guten von den giftigen Früchten unterscheiden konnten. So bewunderten sie die Früchte, berührten sie aber nicht.

In einem Jahr kam aber ein sehr warmer Sommer, dann ein Herbst ohne Regen und schließlich ein eiskalter Winter. Im Frühjahr wurde der Boden hart wie Stein und es wuchs nichts mehr. Hungersnot breitete sich über das Land aus. Und der Baum stand unberührt von dem Leid, das ihn umgab und trug weiterhin die wunderschönen Früchte, als würde er sie allen anbieten. Die Menschen suchten die Nähe des Baumes, sie wussten um die Wahl:
wenn sie die Früchte nicht berührten, würden sie an Hunger sterben, wenn sie nach den Früchten griffen, würden sie Gefahr laufen, sofort tot umzufallen. Der Anblick des fruchtbaren, großzügigen Baumes war zu einer Folter geworden und die ersten Menschen begannen zu verhungern.

Ein sehr alter Mann trat hervor: alle wussten, sein ausgehungerter Sohn lag nun im Sterben. Er hatte nichts mehr zu verlieren und opferte sich, um die Früchte zu kosten. Der alte Mann streckte seine Hand in die Richtung des Baumes. Er pflückte eine Frucht von der rechten Seite des Baumes ab, brachte die Frucht zu seinen Lippen … alle waren still geworden und verstanden sein Opfer: würde er auf der Stelle sterben, würden die Menschen wissen, auf welcher Seite die giftigen Früchte hingen und andersrum. Er biss in die Frucht, kaute das Stückchen und schluckte.

Er blieb stehen. Er blieb am Leben.

Die Menschen warteten noch einen Tag und ließen endlich ihrer Freude freien Lauf. Sie jubelten und tanzten um den Baum! Nun wussten sie, wo die guten und die schlechten Früchte waren! Sie begannen die Früchte der rechten Seite zu pflücken. Die Früchte der linken Seite ließen sie hängen. Sie wurden bald alle wieder gesund und stark.
Der Baum stand weiterhin … seine linke Seite war noch voller Früchte, seine rechte Seite aber zeigte nur noch Äste mit Blättern, aber keine Früchte mehr. Mit der Zeit schien es den Menschen, als ob die wunderschönen, reifen aber giftigen Früchte ihnen trotzten. Sie bekamen Angst vor ihnen und begannen sie zu hassen. Also entschieden sie, die giftigen Früchte auf der linken Seite des Baumes zu zerstören und sägten auf dieser Seite alle Äste mit großer Freude ab.

Der Baum stand zwar noch, aber seine Gestalt glich nun der eines Menschen, der auf einem Bein humpelte. Er war verkrüppelt. Am nächsten Tag waren die Blätter der rechten Seite braun geworden und fielen ab. Am übernächsten Tag blieb von dem Baum nur noch ein vertrocknetes Geäst auf der rechten Seite. Am selben Abend fiel der Baum um. Er war tot.