Auf Entdeckungsreise der mündlichen Erzählkultur und der Nachhaltigkeit
Die Reise ging von der Hauptstadt Dakar bis zur Insel Fadiouth. Es war eine kurze und dennoch unendlich lange, sehr intensive Reise. Ich entdeckte die kargen Landschaften, lernte viele Menschen kennen, hörte viele Geschichten, erfuhr einiges über die Vergangenheit und die aktuelle Situation, über die Politik des Landes.
Es geschah aber vor allem etwas, was heute noch in mir weiterlebt , unzertrennlich von meinem Verständnis, was mündliche Erzählkultur ist oder sein könnte:
Ich habe die „arbres sacrés“ (heiligen Bäume), die „Arbres à palabres“ (Palaverbäume – oder Erzählsäle) in den Dörfern und in den größeren Städten entdeckt, die es früher in jedem Viertel gab. Diese Säle waren unter Bäumen so niedrig gebaut, dass man darin nur sitzen konnte, und somit besser zuhören. Die Natur war der Ort, wo man am besten lernen und erzählen konnte.
Ich verbeuge mich immer wieder innerlich vor Amadou Hampâté Bâ: Der Erzähler, Schriftsteller, Ethnologe, UNESCO Botschafter ( 1900 Mali -1991 Côte d‘Ivoire), gibt mir in seinem eindrucksvollen Werk die Schlüssel zur Erzähltradition Westafrikas, und darüber hinaus Zugang zur ethischen Haltung, die daraus hervorgeht und die wir in Bezug auf wahrhaftige Nachhaltigkeit für heute so gut gebrauchen können.
Amadou Hampâté Bâ: Der Schöpfer des berühmt gewordenen Sprichworts „Wenn ein Greis stirbt, brennt eine ganze Bibliothek“ sagte auch, dass man Westafrika nicht verstehen könne, wenn man deren mündliche Erzähltradition nicht kenne.
Zitat:
"Höre zu, alles spricht, alles ist Wort, alles versucht, uns Wissen zu vermitteln: ein Baum, der seine Äste in den Raum ausbreitet, ermöglicht es zu erklären, wie sich alles im Universum von der Einheit ausgehend diversifiziert; ein Ameisenhaufen, ein Termitenhügel bieten die Gelegenheit, über die Tugenden der Solidarität und die Regeln des sozialen Lebens zu sprechen. Anhand jedes Beispiels und jeder Erfahrung bringen der Bawo und die Ältesten den Jungen bei, wie sie sich im Leben verhalten sollen und welche Regeln sie gegenüber der Natur, ihren Mitmenschen und sich selbst beachten müssen. Sie lehren sie, Mensch zu sein.
„Für die "Meister des Wissens" stützte sich die Logik auf eine andere Weltanschauung, in der der Mensch auf subtile und lebendige Weise mit allem, was ihn umgibt, verbunden war.“
Reise in den Senegal:
Drei Stimmen oder Warum die Zeit und das Wort Schwestern sind
Zuerst war die Stimme, die Stimmer des Erzählers ... eine tiefe, sehr tiefe Stimme: Sie erinnerte an die Nacht, an das Gähnen des Löwen in der Höhle, an das Knarren eines uralten Baumes. Sie ließ die Worte aus der Nacht wie Sterne aufsteigen, verweilte bei manchen, verlängerte den Klang, bis diese Fleisch wurden. Ein Luftschauer dehnte sich schließlich zu einer Welt aus, in die wir versetzt wurden. Die Stimme war die Einladung zur Reise, jetzt schweigt sie, da wir uns auf den Weg gemacht haben.
Bevor wir in Fimela ankommen, entfaltet sich die gelbe Savanne endlos unter dem klaren Himmel, die prophetisch anmutenden Baobabs ziehen für einen Moment den Blick auf sich, das Rütteln des Fahrzeugs auf der Piste wirkt in der Leere der Landschaft beruhigend. Doch nach und nach legt sich ein dumpfer Rhythmus über die Stille der Umgebung, ohne sie jedoch zu übertönen. Vielleicht ist dieser Rhythmus selbst die Stille?
Nein, hören Sie doch! Die Stille hat eine Stimme! Eine ebenso laute und tiefe Stimme, die der ersten Stimme verblüffend ähnlich ist, doch sie ist von anderer Art. Sie kommt von hinter den Dingen, sie beschwört sie nicht herauf, sondern enthüllt sie. Es ist, als ob eine wiedergefundene Erinnerung an die Oberfläche der Erde tritt, so wie an der Wasserstelle klares Wasser aus dem Inneren der Erde aufsteigt.
Die alten Geschichten sind nicht verloren, sie schlummern irgendwo, vielleicht noch betäubt, in Erwartung.
Die alte Stimme sagt, dass es hier und da in der Nacht Feuer gibt, an denen die Wächter der Märchen flüstern. Die Kinder sitzen im Kreis im Garten des Museums und hören zu. Sie wundern sich über ihren Durst nach Geschichten. Sie waren sich dessen nicht bewusst, jetzt hat sie der Durst gepackt.
Das Märchen ist auf dem Vormarsch, es hat nie aufgehört, es zu sein, ungeachtet unserer Unwissenheit.
Sie sind zu dritt, sie rennen auf Höhe der Fenster des Fahrzeugs, damit wir nicht mehr zweifeln. Drei Kinder auf der Suche. Sie heißen Hammadi, Hamtoudo, Dembourou ... auf dem Weg nach Kaidara, dem fernen und doch so nahen Kaidara*!
*Amadou Hampâté Bâ: Kaidara - Initiatische Fulani-Erzählungen
Die alte Stimme erzählt von ihnen, und ihr Atem verleiht ihnen Leben: die Stimme sagt: "Sie laufen", und siehe da, die Landschaft entfaltet sich unter ihren Schritten.
Ein Marigot öffnet nun ein Auge in den Himmel, gesäumt vom grünen Halo einiger Ginsterbüsche an seinen Ufern. Er spendet majestätisch seinen Schatten, in dem ein paar Zicklein grasen, während die Kinder zwischen den bunten Flecken der Wäsche spielen, die zum Trocknen auf den Dornenbüschen aufgehängt wurde.
Die Stimme spricht von einem Brunnen in der Nähe und bleibt dann bei einer schlanken Gestalt stehen, die in helles Tuch gehüllt danebensteht. Die Frau dreht sich um und wirft uns einen Blick zu. Die Kurve ihrer Lenden ist die Kurve, die die Bucht des Flusses bildet, der ein Stück weiter unten fließt. Auch ihr Blick ist von Stille geprägt, sie blickt nicht nach unten und zeigt keine Überraschung über unseren Anblick. Sie scheint zu wissen, dass sie Teil der Landschaft ist, sie ist die Majestät des Tages. Das ist ihre Schönheit: Sie weiß, dass sie unbestreitbar ist.
Die alte Stimme verstummt ebenfalls. Die Zeit bleibt stehen. Die Stimme hört nun selber zu. Sie hört der Natur zu, die nicht aufhört, sich in einem Rhythmus zu äußern, der zur Stille geworden ist und von der Hitze des Tages beschwert wird.
Es ist eine klangvolle Stille, die von einer anderen Stimme spricht, die weder in unseren Ohren noch in unserem Gedächtnis widerhallt, sie spricht zu uns aus dem Inneren dessen, was draußen ist: Aus dem Wesentlichen.
Die Stimme ist die der Affenbrotbäume, die ihre Träume erzählen, die des trockenen Grases, das die Savanne flüstert. Die Aufmerksamkeit der Erde ist bis zum Äußersten geschärft, offen für alle Geräusche, selbst für das winzige Geräusch des Summens einer Fliege in der vibrierenden Mittagsluft.
Unweit der Insel Fadiouth durchschneidet die Piroge lautlos das klare Wasser des Belon auf dem Weg zum Sine Salium. Die Stimme ist das Wasser des Belon, wenn der Einbaum es durchschneidet und gleitet, während auf dem höchsten Punkt der Mangroven ein Silberreiher Ausschau hält.
Die Zeit ist abgeschafft. Die Stimme ist und ist nicht.
Die drei Stimmen werden sich finden und aufeinander abstimmen.
"Die letzten Sterne verschwanden am Himmel, vertrieben vom Krähen des Hahns. Das Licht einer hoffnungsvollen Morgenröte durchbrach die Dunkelheit und erleuchtete den östlichen Horizont.
Kaidara breitete seine mit Gold besetzten Flügel aus und erhob sich majestätisch in den Himmel. Er flog davon, zerteilte die Luft und ließ Hammadi auf dem Boden kniend zurück, zitternd vor Überraschung und Freude, erfüllt von Wissen und Weisheit."*
Die Stimme des Geschichtenerzählers wird sich immer wieder erheben und erzählen, was die Dinge ihren Vorfahren anvertraut hatten. Diese kannten die Stimme der Stille gut, da sie sie bewohnten.
Die Zeit kann wieder nun beginnen: „in der Zeit vor der Zeit, als es die Zeit noch nicht gab.“ Deshalb sagt man, dass Zeit und Sprache Schwestern sind.
Gestern in einer Klasse in Stuttgart: die Kinder, denen ich gerade von meiner Reise erzählt und meine Erfahrungen mit dem Erzählen von Geschichten vor den Kindern in Fimela geschildert hatte, sagten: "Du musst das nächste Mal kommen und uns wirklich alte Geschichten erzählen, sehr, sehr alte ... die ältesten aller alten Geschichten!".
(eine Begegnung mit den Landschaften Senegals – eine Reise in das ein Land der mündlichen Erzählkultur Westafrikas.
Eine Sehnsucht von einer Kultur, wo Worte anders nachklangen.
Eine Erkenntnis: wer gut erzählen möchte, sollte zunächst die Stille wieder lernen.
Eine Erfahrung mit Kindern aus Fimela, die wiederholt werden möchte.
Ein Projekt in dem Park Hahn, Lunge von Dakar.)
ANGEBOT – AUF ANFRAGE
Geschichten-Reisen durch die Welt: Vorträge und Geschichten
„Mit jedem Greis der stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek“
Die Erzählerin Odile Néri-Kaiser gibt Einblick in das Leben, Werk und Erbe des berühmten Ethnologen Amadou Hampâté-Bâ, dem großen Botschafter der mündlichen Erzähltraditionen Westafrikas. Die Botschaft des Ethnologen, Philologen, Philosophen, Diplomaten, Schriftstellers, Weisen und Erzählers ist tatsächlich bis heute aktuell und gibt uns Denkanstöße und Impulse, was eine mündliche Erzählkultur in unserer stark mediatisierten Welt bringen könnte. Der Vortrag wurde am 25.10.2020 im Linden-Museum bereits gehalten und kann auf Anfrage
Mündliche Erzählkultur für Morgen
Geschichten sind per se nachhaltig. Die mündliche Erzähltradition schenkt uns etwas Kostbares zurück …
Wie können Geschichten die nachhaltige Entwicklung begleiten?
Für den Verein Ars Narrandi e. V. … wenn Worte wandern ... hat die Erzählerin Odile Néri-Kaiser gemeinsam mit ihrer Kollegin Annette Hartmann die pädagogische Broschüre „Ein Korb voller Früchte“ konzipiert, sowie das dazu gehörige Geschichtenkartenspiel zu den 17 SDGs*.
* SDGs: 2015 einigen sich 193 Staaten auf 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung