Seit 30 Jahren bin ich als professionelle Erzählerin unterwegs und vor allem meine Begegnungen mit afrikanischen Erzähler*innen haben mich stark geprägt. Besonders bereichert haben mich die Weisheiten von Amadou Hampâté Bâ, des malischen Ethnologen, wunderbaren Erzählers und Schriftstellers. Ihm verdanken wir wesentliche Forschungen zur mündlichen Tradition Afrikas und ich verdanke ihm mein Verständnis, was mündliche Erzählkultur ist.
Mein Weg zur Mündlichkeit begann in meiner Kindheit in Lyon. Im dunklen Raum der alten Werkstatt saß ich geborgen auf dem Schoß meiner Großtante „Mamie“ und lauschte Wolfsgeschichten aus den Abruzzen, die mir einen köstlichen Schauer über den Rücken jagten und gleichzeitig meine Faszination für erzählte Märchen erweckten. Sie war es auch, die mich mit viel Humor in die Kunst der „poetisch lebensnotwendigen Lüge“ einweihte. Zu Hause wurde viel geträllert. Mein Großvater - Pepe Verdun genannt - brachte uns Zungenbrecher, Sprüche, alberne Wortspiele und Lieder bei – an die ich mich bis heute erinnere und schulte damit meine mündliche Fertigkeit. Nach Pierre Jacques Heliaz machten das die alten Bretonen früher mit ihren Kindern genauso.
Von Agnes Chavanon (AMAC) lernte ich das Erzählen und konnte so meine Machtlosigkeit als Lehrerin an Brennpunktschulen „Colleges“ der Lyoner Banlieue in eine pädagogische Methode verwandeln. Meine rebellischen Schüler*innen begleitete ich mit mündlich erzählten Geschichten auf ihrem Weg zu Sprache, Selbstvertrauen und Selbstbehauptung.
Meine Ehe mit meinem deutschen Mann inspirierte mich, durch gegenseitiges Erzählen zur Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit zwischen französischen und deutschen Kriegsveteranen beizutragen (Initiative le Pont - die Brücke - 1999 UNO Friedenspreis). Durch diese sieben Jahre erfuhr ich, wie Sprache und Begegnung einander bedingen. Heute bezeichnet man diese Prozesse als narrative Resilienz (Viktor Frankel und Boris Cyrulnik).
In Deutschland initiierte und begleitete ich zahlreiche Erzähl-Werkstätten mit und für Frauen, meistens aus der Migration und erzählende Kinder ausgebildet. In Stuttgart führte ich diese Arbeit viele Jahre weiter mit dem Haus der Geschichten im Eltern-Seminar und bei Campus mit geflüchteten Frauen. Mit den inneren Bildern der Märchen und Sagen konnte ich die Teilnehmer erreichen und stärken und sie ermutigen, selbst zu erzählen.
Vor 10 Jahren initiierte ich den Vereins Ars Narrandi e.V. … wenn Worte wandern … und organisiere als Vorsitzende Erzählfestivals und Feste, Erzählreihen im Lindenmuseum, Fortbildungen und begleitende Projekte der kulturellen Bildung – insbesondere zu den Themen Natur und Nachhaltigkeit.
Alle meine Projekte haben die Wertschätzung des Lebens und des Lebendigen als Motiv. Sie schlagen den Bogen zu heutigen Themen, Brücken zwischen Generationen und Kulturen, zwischen Geschichten von gestern und heute. Der rote Faden meines Weges ist die Erforschung der Mündlichkeit und was uns Erzähltraditionen aus anderen Kulturen heute schenken können. Meine Erfahrungen verpacke ich in Geschichten, die ich durch die Kraft des gesprochenen Wortes und des narrativen Fadens für jede Zuhörerschaft neu entstehen lasse.